-- "Berliner Universitäts-Misere"-- Treitschke, Heinrich von, Historiker, einflußreicher nationalliberal-politischer Publizist und Mitglied des Reichstags, Ordinarius in Kiel, Heidelberg und Berlin, dort als Nachfolger Rankes auch offizieller Historiograph des preußischen Staates (1834-1896). 12 eigh. Briefe m. U. "Treitschke". Zus. ca. 38 S. Gr. 8vo. Heidelberg und Berlin 1870-1878. Sehr gehaltvolle Briefreihe an den Staatsrechtler und Rechtshistoriker Hermann von Schulze-Gaevernitz in Breslau. Nachdem dieser ihm den ersten Band seines Werkes "Das preußische Staatsrecht - auf Grundlage des deutschen Staatsrechts" übersandt hat, eröffnet Treitschke eine Korrespondenz, die sich sporadisch über 8 Jahre erstreckt. Bei Beginn des Deutsch-Französischen Krieges schreibt er: "... Ich habe mich herzlich der eigenthümlichen und fruchtbaren Behandlung gefreut, die Sie zum ersten Male dem preußischen Staatsrechte angedeihen lassen ... Ich freue mich auch, fast in allen wichtigen Fragen mit Ihnen übereinzustimmen ... Dieser herrliche, gräßliche Krieg wird unter anderem Segen auch die gute Folge nach sich ziehen, daß der monarchische Sinn erstarkt, der Doctrinarismus im Preise sinkt, und die von Ihnen vertretene maßvollere und tiefere Staatsanschauung mehr Anhänger gewinnt ... Die nächste Sorge gilt jetzt dem Friedensschlusse: Elsaß und Lothringen müssen preußisch werden, sonst erreichen wir keinen Zustand dauerhafter Sicherheit. Ich habe soeben über diese Frage einen Jahrbücher-Aufsatz geschrieben [gemeint sind die "Preußischen Jahrbücher"] ... Es ist ein Irrthum, wenn man im Norden glaubt, das werde Zwietracht im Süden erregen. Die Stimmung in Süddeutschland ist vortrefflich, die patriotische Gesinnung wunderbar stark, so daß jeder Widerstand verstummen muß. Die besseren süddeutschen Blätter sprechen das bereits offen aus [Heidelberg 2.IX.1870] ... Ich denke die Drohung, die ich im Frühjahr gegen Sie ausstieß, wirklich auszuführen und das schlesische Land durch meine Gegenwart unsicher zu machen ... Mein ungefährer Plan ist, von Hirschberg ein paar Tage ins Gebirge zu gehen, dann, nach einem Abstecher in die Grafschaft Glatz, nach Breslau zu fahren, von dort Oberschlesien und Krakau zu sehen. Jedenfalls bitte ich Sie, mir zu sagen, wo Sie zu finden sind, ferner ob und wie man die Breslauer Bibliothek während der Ferien benutzen kann [Heidelberg 13.VIII.1871] ... der Setzer, der leider schon längst eine Großmacht in meinem Leben geworden ist, verfolgt mich selbst in diese Berge. Ich muß hier fest sitzen, bis ein schweres Stück Mscpt für die neue Auflage meiner Aufsätze vollendet ist, und leider ist es gerade das widerwärtige Thema des zweiten Kaiserreichs, was mich plagt ... Doch hoffe ich Sie jedenfalls in Breslau zu sehen und dort auch einige Rathschläge für Oberschlesien zu erhalten [St. Märgen, Schwarzwald, 29.VIII.1871] ... Der Breslauer Tag war doch sehr hübsch, es thut einem so wohl nach unstätem Wandern ein gastliches Haus zu betreten. Für Ihr Staatsrecht werden wir sicher einen tüchtigen Referenten finden; ich selber muß mir alle Besprechungen verbieten, wenn meine langsame Feder nicht ganz auf das Produciren verzichten soll ... ich sammle literarisches Material zu meinen archivalischen Notizen über die preußischen Verfassungsversuche und erschrecke über die Armseligkeit der staatsrechtlichen Literatur. Hat wohl Jemand auch nur versucht, über die Stein-Hardenbergschen Reformen etwas Gründliches zu schreiben? ... Wie freue ich mich über Mühlers Fall. Wir haben ein sonderbares parlamentarisches System, doch zuletzt setzt das Parlament seinen Willen durch. Ich mache mir keine Illusionen; die heillosen Mißstände in der Kirche sind nicht durch einen Mann verschuldet, nicht durch einen Mann zu heben. Aber ernsthafte Fürsorge für Kunst und Wissenschaft und eine consequente Haltung Rom gegenüber erwarte ich immerhin, und diese friedlichen Kulturaufgaben Preußens liegen mir verschrieenem Kriegsfanatiker gar sehr am Herzen [Heidelberg 18.I.1872] ... Ich schreibe jetzt an einigen Specialuntersuchungen für meine Deutsche Geschichte ... Diese Arbeiten sind so zeitraubend, daß ich diesmal dem Reichstage nur auf wenige Tage beiwohnen konnte. Ich hätte auch in den öden Plenarverhandlungen wenig nützen können ... An dem Jesuitengesetze hab' ich wenig Freude, wenngleich ich seine Nothwendigkeit einsehe [Heidelberg 9.VI.1872] ... Ich will für das Januarheft einen kurzen Artikel über die preußische Krisis schreiben und darin auch Einiges über die Reform des Herrenhauses sagen. Zu anderen Zeiten wäre ich mit einem so großen Erfolge, wie die Kreisordnung, vollauf zufrieden. Heute scheint mir ein rascheres Fortschreiten, eine baldige Reform des Herrenhauses dringend wünschenswerth ... Die Clique Victoria, Stosch, Usedom wünscht Verschiebung der Sache, damit unter dem neuen Kaiser die völlige Austreibung der Aristokratie, die Umwandlung des Hauses in einen Beamten-Staatsrath mit Zuziehung gewählter Höchstbesteuerter möglich werde. Ich würde das tief beklagen; die wirklich aristokratischen Elemente, die wir besitzen, dürfen dem Staate nicht verloren gehen. Mein Gedanke wäre etwa: Beseitigung der Alten und Befestigten sowie der Grafenverbände, so daß die wirkliche Aristokratie und die Spitzen des Beamtenthums, Civil und Militair im Hause blieben ..." [Heidelberg 23.XII.1872]."... wollen Sie so liebenswürdig sein, mir sogleich mit einigen Worten zu sagen, was Sie von Erdmannsdörffer's Lehrthätigkeit wissen? Er ist mein Freund, ich schätze ihn sehr und halte ihn unter den jüngeren Historikern fast für den feinsten Kopf; aber über sein Lehrtalent fehlen mir sichere Nachrichten ...". Bei positiver Auskunft wolle er ihn auf die Vorschlagsliste für die eigene Nachfolge in Heidelberg setzen, da er selbst ja nach Berlin gehe. "... Wie schwer wird mir der Abschied! Und wie sicher weiß ich leider, daß mein Kommen an der Berliner Universitäts-Misere nichts ändern wird! Gleichwohl glaub' ich, daß ich mich nicht versagen durfte, und Mommsen's Fahnenflucht beirrt mich nicht in dieser Meinung ..." [Heidelberg 23.XI.1873]. - 1875 entschuldigt er sich für eine verspätete Danksagung: "... Ich habe aber zum ersten male erfahren, was eine Berliner Carnevalszeit für einen thätigen Mann bedeutet. Man kommt vor lauter Gesellschaften nicht zu Athem, wenn man seine akademischen und literarischen Pflichten nicht vernachlässigen will ...". Beklagt sich dann über in- und ausländische Kollegen, die ihm bei seinen Buchprojekten ins Gehege kommen [22.IV.1875]. - 1877 beschäftigt er sich mit Schulze-Gaevernitz' Übersiedlung nach Heidelberg, gibt Hinweise und Empfehlungen für dortige Verhältnisse und Kollegen [Berlin 27.XI.1877]. - Im Januar 1878 schreibt er: "... aus den heutigen Zeitungen sehe ich soeben, daß Sie noch einmal die Weltstadt unsicher machen. Da möchten wir Ihrer doch gern habhaft werden und fragen freundlichst an, ob Sie nicht am Samstag (Berlinisch: Sonnabend) mit Stauffenbergs ... bei uns essen wollen ... [Berlin 30.I.1878]. - Der Historiker Treitschke steht seit längerer Zeit in schlechtem Ruf wegen seines berüchtigten, in einem Aufsatz geäußerten Ausspruchs: "Die Juden sind unser Unglück"; er war allerdings kein fanatischer, mörderischer Rassist im Sinne der Nazis, sondern sah eine Gefahr in der wachsenden Zuwanderung und Einflußnahme eines Volkes mit eigener Kultur und starkem Zusammengehörigkeitsgefühl in wichtigen Bereichen der Gesellschaft, so dass er eine vollständige Assimilation der Juden in Deutschland anstelle ethnischer und religöser Gruppenbildung und Abschottung forderte. Er bewegte sich damit allerdings im Rahmen der damals in ganz Europa grassierenden antisemitischen Tendenzen. - [...]